Hier ist noch alles möglich: Eine junge Frau auf der Suche nach sich selbst und einem Wolf

Gianna Molinaris Debüt findet Schönheit, wo man sie nicht vermutet.

Wir weißen* gebildeten Menschen im Westen haben Wohlstand genug, um in die Länder zu reisen, deren Wohlstand nicht so hoch ist wie der unsere, um uns da, in der vermeintlichen „Ursprünglichkeit“, selbst zu finden. Während weiße* privilegierte Mittelstandskids sich also in Indien mit „exotischen“ Kräutern einen Rausch verschaffen, sucht die Protagonistin in Gianna Molinaris Debütroman „Hier ist noch alles möglich“ ebenfalls nach sich selbst – im Überwachungsraum einer Papierfabrik.

Ganz freiwillig begibt sich die Protagonistin in eine Situation, die für die meisten von uns ziemlich bedrohlich wirkt – die der Einsamkeit.
Tatsächlich hat sie alles stehen und liegen lassen, ihren alten Job in der Bibliothek gekündigt, ihre kleine Bleibe mit eigenem Gärtchen aufgegeben, um ihr Zimmer in der Papierfabrik zu beziehen.  Dort ist sie jetzt Sicherheitspersonal, Nachtwächterin und Grubengräberin – naja und irgendwie auch Forscherin.

Die Protagonistin forscht nicht nur nach sich selbst und nach einem Mann, der angeblich vom Himmel fiel, sondern auch nach einem Wolf, der sich auf dem Gelände der fast stillstehenden Fabrik bewegen soll. Mit ihrem Nachtwächterkollegen Clemens findet sie das vom Chef beauftragte Graben der Fallgrube gar nicht so schlimm.

Ihre Forschung notiert sie penibel. In ihr Universal-General-Lexikon notiert und klebt sie darum alles, was ihr im Alltag begegnet. Wolf, Clemens, Grube, Der Mann, der vom Himmel fiel.

Gianna Molinaris Protagonistin ist auf der Suche nach einem Wolf.
©Wikimedia Commons

Den literarischen und Nebensatz lastigen Text spickt Molinari daher auch mit Listen, kleinen Zeichnungen, Papierschnipseln und erinnert dabei ein wenig an „Der Mensch erscheint im Holozän“ – nur eben ohne Alzheimer. Ihr Universal-General-Lexikon wird für die Protagonistin zur Definitionsmaschine ihrer Selbst – ein sich verselbstständigendes Etwas, das sie in der Einöde, in die sich geflüchtet hat (und die sich irgendwie ebenfalls verselbstständig) begleitet. Was auf den ersten Blick zusammenhangslos in ein Buch gekritzelt erscheint, erhält im Lebensuniversum der Protagonistin Bedeutung, und wird zum Bestandteil ihrer Identität.

Lose leiht mir sein technisches Wörterbuch für Luftfahrt. Unter dem Wort Transponder steht das Wort traurig, und ich frage mich, was dieses Wort in einem technischen Wörterbuch für Luftfahrt zu suchen hat. Vielleicht dient es der Kommunikation zwischen Pilot und Co-Pilot, damit sie sich gegenseitig über ihre Gemütszustände informieren können.

Dass es Molinaris Buch von der Longlist des Deutschen Buchpreises 2018 leider nicht mehr auf die Shortlist geschafft hat, ist bedauerlich. Der Roman ist leichte, unterhaltsame und spannende Lektüre. Klar, ein bisschen infantil ist das Buch der Schweizer Autorin schon, aber eigentlich nur so weit, als dass man sich als erwachsene Person in der infantilen Freude und Sehnsucht, die der Text weckt, noch wohlfühlt. Neben Aufzählungssätzen, Listen und Textschnipseln arbeitet Molinari auch mit hochpoetischen sprachlichen Bildern, die aus dem Morallehrbuch „Der kleine Prinz“ stammen könnten. Man kann es ihr aber nicht übelnehmen, da der Text funktioniert und dennoch verunsichert. Indem Molinari genug Unklarheiten und Fragen offenlässt (warum ist sie eigentlich wirklich in dieser Fabrik, was ist ihr vorher passiert, gibt es diesen Wolf nun, oder nicht?), schafft sie den Absprung von Kitsch hin zu verstörenden und skurrilen Momenten.

[U]nd sollten sie fragen, was man gemacht habe die ganze Zeit , werde man sagen, dass man gewartet habe, Karten gespielt, aufs Meer geschaut.

Dass Molinari den Text in einer langsam aussterbenden Fabrik ansiedelt, kann den Lesenden schon unbehaglich vorkommen. Es ist ungewohnt, einsam und seltsam. In dieser Ortswahl scheint aber die große Stärke des Textes zu liegen, denn Molinari vermag es Schönheit zu finden und zu beschreiben, wo d* elitäre Leser*in sie wahrscheinlich nicht vermutet.

Eine durchaus leichte, in der Form anspruchsvolle und intellektuelle Lektüre für zwei oder drei Herbstabende, die unbedingt zu empfehlen ist.

 

Gianna Molinari: Hier ist noch alles möglich. Roman.
Aufbau Verlag, 2018, 192 Seiten, 18 €.

Wir danken dem Aufbau Verlag für das Rezensionsexemplar!