„Exoten waren wir“: Arno Camenischs „Goldene Jahre“

Viel passiert nicht, im Kiosk von Rosa-Maria und Margrit. Das gibt den beiden Frauen Zeit zu erzählen. 

„Der Schlüssel für alles liegt in der Kindheit“, sagt Protagonistin Rosa-Maria, während sie ihre Brille mit Goldrand zurechtrückt. Und tatsächlich scheint diese Formel auch auf die Longlist für den Deutschen Buchpreis anwendbar zu sein, beschäftigt sich doch ein großer Teil der nominierten Texte mit Kindheit und Adoleszenz. Einer der als Favoriten gehandelten Texte, Helena Adlers „Die Infantin trägt den Scheitel links“, kann wohl als eines dieser Beispiele begriffen werden. Doch während die österreichische Infantin als Anti-Heimatroman eingeordnet wird, bedient sich ihr Schweizer Kollege Arno Camenisch dem Genre des Heimatromans, oder genauer, der Dorfgeschichte. Seine Protagonistinnen: zwei ältere Kioskbesitzerinnen um die 70.

Als Margrit und Rosa-Maria, das erste Mal ihre Leuchtreklame anschalten und ihren Kiosk eröffnen, ist es 1969, das Jahr der Mondlandung. Seither sind 51 Jahre vergangen und die Leuchtreklame und den Kiosk gibt es noch immer. Pionierinnen waren sie, Exoten. Denn so ein Kiosk war was Neues und dann sogar einer mit Zapfsäule.

Bevor die Umgehungsstraße kam, brummte der Laden. Auch der eine oder andere Prominente kam vorbei. Das Erfolgsrezept der beiden liegt in ihrer Verschwiegenheit – dem Pfarrer wird das „Heftli“, das er sich immer kauft, kommentarlos in den Blick eingewickelt. Und auch die ein oder anderen Problemchen, die den beiden beim Kaffee oder Zückerli an der Zapfsäule anvertraut werden, werden natürlich nicht ausgeplaudert.

[S]obald das Licht auf dem Dach angeht, geht auch das Leben im Dorf an, das ist wie der Hauptschalter.

Heute fahren allerdings nur noch wenige durchs Dorf. Die Margrit und die Rosa-Maria haben also Zeit, ihr halbes Jahrhundert im Kiosk Revue passieren zu lassen. Kundschaft kommt keine.
An der Mondlandung wird die Zeit gemessen – das Jahr der Eröffnung. Danach die Tour de Suisse, Tschernobyl, der Mauerfall.
Die Lesenden werden zu Zuhörer*innen der Geschichten, wirkt es doch so, als würden die beiden Damen sich an ein Publikum im leeren Kiosk wenden.

Der Autor Arno Camenisch. Copyright: Janosch Abel und Wikimedia Commons.

Wie für einen Heimatroman, oder Dorfgeschichte üblich, wird das Bild einer ruhigen Idylle vermittelt – einst der Ankerpunkt des Dorfes, und nun der Ruhepol zwei betagter Damen, die sich nicht stressen lassen. Während Dorfgeschichten und Heimatromane einen Konflikt zwischen Stadt und Land verhandeln und Fortschritt und Modernisierung eher kritisch gegenüberstehen, wird dieser Konflikt bei Camenisch eher unbedeutend gehalten. Rosa-Maria und Margrit wundern sich eher – über E-Bikes (Velos), zerrissene Jeans und darüber, dass niemand mehr Moonboots trägt. Und über das Wetter, darüber wundern sie sich auch, denn so richtig Schnee, den gibt es schon lange nicht mehr.

Janu, jetzt bricht der Frühling jedenfalls wieder an, sagt die Margrit und schaut das Tal hinauf, aber an so Winter will man sich nicht gewöhnen, sep nid, sagt sie und steht vor dem Kiosk hin […].

„Goldene Jahre“, erschienen im Engeler Verlag, ist Camenischs neunter Roman. Mit dem Text scheint er sich seinem Erfolgskonzept handlungsarmer, kurzer Dorfgeschichten zu bedienen.
In „Goldene Jahre“ arbeitet Camenisch mit einer Mischung aus Hochdeutsch und Schweizer Dialekt. Sodali. Durch die repetitiven Gesten der Frauen (die Dauerwelle zurechtrücken, die Goldrandbrille nach oben schieben) und das stetig eingestreute „die“ in der Nennung der Protagonistinnen („sagt die Rosa-Maria“, „entgegnet die Margrit“) soll eine gewisse Schrulligkeit der Figuren erzeugt werden. Allerdings wirkt dies oft ein wenig ungeschickt. Wenn die Protagonistinnen schwer von Begriff sind, oder Worte falsch verwenden („Mombuts“ statt „Moonboots“) scheint dies alles ein wenig erzwungen.

Auch hätte diese kurze Erzählung von 100 Seiten gern mehr Reibung vertragen können. Da der Text komplett aus dem Gespräch der beiden Protagonistinnen, auf Erinnerungen im Dialekt beruht und auf Konflikte gänzlich verzichtet, ist der Roman eine durchaus süße Zerstreuung, ein Buchpreisgewinner aber wohl eher nicht.

 

Arno Camenisch: Goldene Jahre. Roman
Engeler Verlag, Gebunden, 101 Seiten
CHF 25 / EUR 19

Wir danken dem Engeler Verlag und dem Team des Deutschen Buchpreises für die Rezensions- und Verlosungsexemplare.