Alle, außer mir: Ein Buch gegen die Geschichtsvergessenheit

Mit ihrem generationsübergreifenden Familienepos „Alle, außer mir“ blickt Francesca Melandri tief in die italienische, gleichzeitig aber auch, die europäische Seele.

Attilio Profeti ist fast hundert. Er ist dement. Und er hat viele Geheimnisse. Eigentlich sollte er Attila heißen, aber seine Mutter protestierte. Ihr schöner italienischer Junge würde nicht den Namen der „Geißel Gottes“ tragen – jenes Hunnenkönigs, der, jedenfalls der christlichen Überlieferung nach, geschickt worden sei, die Römer*innen für deren Dekadenz zu bestrafen. Als überzeugte Faschistin sei der Name eines Mannes, der Rom von seiner Größe abgebracht habe, in ihrer Familie natürlich nicht willkommen.

Somit wurde aus Attila Attilio. Der ganze Stolz der Familie des Eisenbahners Ernani Profeti. Durch seine blauen Augen, langen Glieder und definierten Gesichtszüge ebenso der Stolz der italienischen „Rasse“.

Attilio kommt super durchs Leben. Irgendwie hat er immer Glück. Vermeintliche Fauxpas lächelt er einfach weg. Frauen können ihm einfach nicht widerstehen.

Ilaria, Tochter aus erster Ehe, findet bereits als Teenagerin eines der Geheimnisse ihres Vaters heraus – seine jahrelange Affäre mit seiner Sekretärin und der geheime Sohn, der aus dieser Verbindung hervorgegangen ist. Über Jahre hat Attilio Profeti zwei Kinder verschiedener Frauen morgens in die Schule und den Kindergarten gebracht, ohne dass die Kinder, geschweige denn seine Ehefrau Marella, Wind davon bekommen haben. Eine Spitzenleistung. Dieses Geheimnis ist quasi eine Lappalie gegen jene, die Ilaria im Laufe des Romans noch lüften wird – ihr Vater bereits zu dement um ihre Fragen zu beantworten.

Die Geschichte springt zwischen verschiedenen Zeitebenen und Perspektiven. Wir befinden uns im Jahr 2010. In jenen vier Tagen, in denen Berlusconi den libyschen Diktator Gaddafi empfängt, der in dieser Zeit ausgewählte Hostessen vom Islam zu bekehren versucht.

Sie springt in die Jahre des italienischen Faschismus ab 1935, als Italien Äthiopien kolonialisierte und den grausamen „Abessinienkrieg“ führte.

In den letzten Kapiteln springt der Roman dann noch einmal ins Jahr 1919, dem Jahr des Aufstiegs Mussolinis im vom ersten Weltkrieg gezeichneten Italien.

Alle sahen, wie sie sich den echten Trauring vom Finger zog und wie eine Erkennungsmarke über den Kessel hielt. […] Dann mit einem leichten Klimpern, fiel der Ring in den Kessel. Der Sektionssekretär steckte ihr den Eisenring an den Finger, und Viola Profeti ehelichte mit verklärter Miene ihren Duce.

Eingerahmt werden die Zeitfenster im ersten und letzten Kapitel vom Jahr 2012 – dem Jahr des Todes Attilio Profetis, dessen Ziel es war, den Wettkampf zu gewinnen und länger als sie alle zu leben. Denn wenn Profeti von etwas mehr überzeugt ist als dem Faschismus und der Vorherrschaft der „italienischen Rasse“, dann davon, dass alle einmal sterben müssen – alle, außer er.

Plötzlich sitzt er da auf den Treppenstufen des Hauses auf dem Esquilin, in dem Ilaria und ihr Halbbruder Attilio, die von Vater Attilio Profeti gekauften Eigentumswohnungen besitzen. Ein Äthiopier, der behauptet ihr Neffe zu sein, wartet auf die beiden. Und tatsächlich – auf seinem Ausweis steht der Name Shimeta Ietmgeta Attilaprofeti. Attilaprofeti? Moment – ein Name so selten in Italien, irgendwas muss also dran sein an der Geschichte.

Hier beginnt die Reise von der Erzählung Shimetas und seiner Flucht aus Äthiopien über Libyen, dessen Diktator gerade feierlich in Rom empfangen wird, als gäbe es die Gräueltaten in seinem Land nicht. Von seinen Aufenthalten in italienischen Geflüchtetenlagern und der Aussichtslosigkeit, die von diesen ausgeht. Von der Ignoranz Italiens. Vom Aufstieg Berlusconis, mit welchem faschistoide Begriffe wieder alltagstauglich wurden.

1935. Frauen werfen ihre Eheringe in einen Schmelztiegel. Unter dem Slogan „Oro alla Patria“ spenden Frauen ihre Eheringe um den italienischen Eroberungskrieg in Äthiopien zu unterstützen. Quelle: https://www.ifzmuenchen.de/heftarchiv/2006_1_3_terhoeven.pdf

Die Erzählung springt in die Jugend Attilio Profetis, seine Zeit in Äthiopien, den Verbrechen der Italiener, seine „Beziehung“ zur Äthiopierin Abeba, die später den gemeinsamen Sohn und Vater Shimetas zur Welt bringen wird. Die italienischen Vernichtungszüge der „Schwarzhemden“ werden ebenso beleuchtet, wie die vorgenommenen Vermessungen und Fotografien für die italienischen „Rasselehrbücher“.

Ein einfaches Prinzip war es, die Subjekte mit dem Gesicht der prallen Sonne auszusetzen, so dass sie die Augen zusammenkneifen mussten, was den Blick jeglicher Intelligenz enthob. Wenn er einen kurzen Schrei ausstieß, bevor er auf den Auslöser drückte, versteinerten ihren Mienen zu einem raubtierhaften Ausdruck. Wenn er die Augen zur Seite rollte, imitierten sie ihn und zogen die Miene eines Faulpelzes. Bei den Frauen genügte es, sie barbusig abzulichten, um dem italienischen Leser ihre primitive Barbarei vor Augen zu führen.

Melandri erzählt diese Schrecklichkeiten mit Präzision und gleichzeitig schmerzhafter Trockenheit. Neben der fiktionalen Geschichte um Attilio Profeti werden Parts gestreut, die sich wie dokumentarische Texte aus Geschichtsbüchern lesen. Melandri gräbt damit tief und schmerzhaft in den Eingeweiden der italienischen Geschichte. Jenen Teilen, die nicht sichtbar sind, versteckt unter der Oberfläche. Ignoriert und dennoch verantwortlich für jene Strukturen und Dynamiken in Italien. Indem die Autorin zwischen den Zeiten springt offenbart sie diese Verbindungslinien und eröffnet einen verdrängten Diskurs über den italienischen Kolonialismus und die nicht hinterfragte und aufgearbeitete Geschichte des Faschismus.

Die Schwarzhemden überrannten Addis Abeba mit Haschisch, Alkohol und dem khat im Blut, mit denen ihre Vorgesetzten sie versorgten, was aber schon nach wenigen Stunden nicht mehr notwendig war, da keine Substanz stärker auf die Psyche wirkt als die Erlaubnis grenzenlose Gewalt auszuüben.

Melandri verrennt sich leider manchmal in der Trockenheit ihres Erzählstils und reproduziert Stereotypen, die sie eigentlich hinterfragen will, beispielsweise wenn mehrfach von den „hohen Stirnen“ der Äthiopier*innen die Rede ist, oder der Haut „von Farbe verbranntes Holzes“. Außerdem taucht in der Danksagung in Bezug auf die zehnjährige Recherche, die die Autorin unternahm, der Begriff „Mischling“ auf (ob dies der Übersetzung durch Esther Hansen geschuldet ist, sei hier offen gelassen).

Der „Palazzo della Civiltà Italiana“ in Rom. Ein von Mussolini für die geplante Weltausstellung 1942 beauftragtes Stadtviertel Roms, zeugt vom futuristischen Architekturstil des italienischen Faschismus. Die Worte, auf allen Seiten des würfelförmigen Palazzos lesbar, bedeuten in etwa: „Ein Volk der Dichter, der Künstler, der Helden, der Heiligen, der Denker, der Wissenschaftler, der Seefahrer, der Wandernden“. Eine kritische Informationstafel sucht man vergeblich.

Nichtsdestotrotz stellt „Alle, außer mir“ ein wichtiges Buch dar, ein großes Buch. Ein Roman, der an die Nieren geht und das auch muss, um einen Diskurs zu schaffen und eine Diskussion über die Vergangenheit Europas und unsere postkoloniale Gegenwart anzuregen.

Der Roman endet im Jahr 2012, könnte aber ebenso eine weitere Geschichte erzählen. Eine, die im  Jahr 2018 spielt, in dem Innenminister Matteo Salvini Sinti und Roma zählen lassen möchte, die Aquarius und die über 600 Geflüchteten an Bord, von Italien abgewiesen werden, weil der Innenminister die „schwarze Invasion“ fürchtet.

„La Repubblica“ beschreibt „Alle, außer mir“ als „eine Reise in die italienische Seele“. Tatsächlich schmerzt dieser Text aber auch so enorm, weil er ebenfalls eine Reise in die europäische Seele darstellt. Lest dieses Buch!

 

Francesca Melandri:
Alle, außer mir
Aus dem Italiensichen von Esther Hansen
Wagenbach; 608 Seiten, 26 Euro
Wir danken Wagenbach für das Exemplar zum Kolleg*innenpreis.