#RegrettingMotherhood: Elena Ferrantes „Frau im Dunkeln“

Mit „Frau im Dunkeln“ ist nun nach langer Vorfreude ein weiterer der frühen Ferrante-Romane in deutscher Übersetzung bei Suhrkamp erschienen. Ferrante widmet sich (bekanntermaßen) dem Thema Mutterschaft, und beleuchtet dieses ausführlich von Seiten einer Protagonistin, die den Mythos der bedingungslosen Mutterliebe dekonstruiert.

Während das jüngste Werk Elena Ferrantes, „Die Neapolitanische Saga“ (Hier geht’s zu unserem Podcast!), die deutschen Feuilletons, Blogs, und Lesende bereits in ein unumgehbares Fieber gestürzt hat, publiziert der Suhrkamp Verlag nun auch Neuübersetzungen der älteren Werke der Autorin (vorherige deutsche Übersetzungen gab es zwar, hatten aber nicht sehr viele Käufer*innen). „Lästige Liebe“ war der erste, danach kam das illustrierte Kinderbuch „Der Strand bei Nacht“. Nun soll auch „Frau im Dunkeln“ das deutschsprachige Publikum begeistern.
Mit „Frau im Dunkeln“ publiziert der Verlag im Übrigen auch den ersten Ferrante Roman bei Suhrkamp, der nicht mehr von Karin Krieger übersetzt wurde. Stattdessen schicken sie Anja Nattefort in den Ring, die den Roman bereits 2007 übersetzte.

Leda ist fast fünfzig, geschieden und unterrichtet Anglistik an der Universität in Florenz. Ihre fast erwachsenen Töchter leben bei deren Vater in Kanada. Neben ein paar Affären hält Leda nicht viel in der Universitätsstadt, in der sie arbeitet. Sie nutzt ihre Ungebundenheit für einen langen Urlaub an der ionischen Küste im Süden Italiens. Ihr Kofferraum ist vollgestopft mit Büchern, denn die Wochen will sie am Strand mit der Lektüre und Vorbereitung des nächsten Semesters verbringen. Gleich am ersten Tag des Urlaubs findet sie einen Strandzugang, der ihr außerordentlich gefällt und auch der attraktive Bademeister Gino, der sich in den Semesterferien Geld für sein Studium verdient, hinterlässt einen guten Eindruck.

Ledas Strandidylle wird allerdings schnell durch eine Sippe gestört, deren Herkunft sie anhand des Benehmens und des Dialekts sofort in Neapel verortet, dem Ort ihrer eigenen Kindheit. Erst ärgert sich die Protagonistin über diesen lauten Clan, der sie in ihre eigene Kindheit zurückwirft, beruhigt sich aber, als sie die junge Mutter mit ihrer kleinen Tochter bemerkt, deren Namen Nina und Elena sie sich schnell einprägt. Sie bewundert die Innigkeit der beiden, die Geduld der blutjungen Mutter, die ruhig und liebevoll mit Elena und deren äußerst alter und hässlicher Puppe spielt. Immer wieder beobachtet sie unbemerkt das Geschehen. Nach ein paar Tagen reist auch Ninas viel älterer und zwielichtiger Mann an, den Leda sofort verabscheut.

„Die Kleine war irgendwie befremdlich, ich weiß auch nicht, was es war, eine kindliche Schwermut oder ein stilles Leiden. Aus ihrem Gesicht sprach der beständige Wunsch, ihrer Mutter nah zu sein: ein ohne Tränen oder Launen vorgetragenes Flehen, dem die Mutter sich nicht entzog.“

Als die kleine Elena plötzlich verschwindet, schließt sich die Universitätsprofessorin Leda der Großfamilie an, um beim Suchen zu helfen. Sie findet Elena und kommt schnell mit der überdankbaren Mutter und der zugehörigen neapolitanischen Sippe in Kontakt.
Obwohl Elena nun wieder da ist, ist die Stimmung getrübt, denn etwas fehlt: Die geliebte Puppe des Mädchens. Leda macht sich auf den Heimweg in ihre Ferienwohnung – in ihrer Tasche liegt die verwahrloste Puppe.

Trotz der Gewissensbisse, von denen Leda heimgesucht wird, schafft sie es nicht die Puppe zurückzugeben. Stattdessen triggern die Erlebnisse und Gespräche am Strand, ihr Diebstahl und die neapolitanische Familie ihre eigenen Erinnerungen.

Neapolitaner*innen am Strand (Symbolbild). Quelle: Wikimedia Commons

In bruchstückhaften Episoden erinnert sich die Protagonistin an die eigene Mutterschaft und das Bereuen dieser. Nach und nach dringt Leda in ihre Vergangenheit vor, ihre Erlebnisse als junge Mutter und ihre Empfindungen. Von ihrem Mann und der süditalienischen Sozialisation in stereotype Rollen gedrängt, wird sie ihre Kinder mehrere Jahre verlassen und kann sich darum nie wirklich vom Image der schlechten Mutter befreien.

Bereits viele Jahre vor der durch die israelische Soziologin  Orna Donath ausgelösten Kontroverse, die auch das Internet unter dem Hashtag #RegrettingMotherhood beschäftigte (Orna Donath: Regretting Motherhood: Wenn Mütter bereuen. Knaus, 2016), dekonstruiert Ferrante in ihrem Roman „Frau im Dunkeln“ (im Original 2006 erschienen) den Mythos der bedingungslosen Mutterliebe. Stattdessen erschafft sie mit Leda eine Protagonistin, die Mutterschaft nur selten als erfüllend empfunden hat, die ihre Kinder deswegen verlässt und von der (süditalienischen) Gesellschaft als Rabenmutter gebrandmarkt wird.

„Der Körper einer Frau macht tausend verschiedene Sachen, er arbeitet, rennt, studiert, fantasiert, erfindet, reibt sich auf, und derweil werden die Brüste größer, die Schamlippen schwellen an, das Fleisch pocht in einem runden Leben, das zu dir gehört, dein Leben, doch es drängt woandershin, es wendet sich von dir ab, obwohl es deinen Bauch bewohnt, einen freudvollen und schweren Bauch, köstlich wie ein gieriger Impuls und doch abstoßend wie ein giftiges Insekt, das sich in einer Vene einnistet.“

Ferrantes Roman ist düster und, wie auch schon „Lästige Liebe“, mystisch und geheimnisvoll. Ledas Handlungen bleiben undurchsichtig und seltsam, üben aber dennoch, oder gerade deswegen, einen enormen Sog auf die Lesenden aus.

Während in „Lästige Liebe“ die Beziehung zur Mutter und Kindheit analysiert wird, widmet sich „Frau im Dunkeln“ der eigenen Mutterschaft. Beide Romane werden später in der epischen Neapel-Tetralogie kulminieren und von Bedeutung sein. Es scheint ganz so, als habe Ferrante diese kurzen Romane gebraucht, um letztendlich „Die Neapolitanische Saga“ in ihrer Perfektion zu Papier zu bringen. So finden wir beispielsweise auch in „Frau im Dunkeln“ bekannte Figuren (Gino/ Nino, Nina/Lila, Elena/Tina, etc.). Auch die verschwundene Puppe ist wohl eines der wichtigsten Symbole Ferrantes, welches uns sowohl in der Tetralogie, bei „Frau im Dunkeln“ und „Der Strand bei Nacht“ begegnet. Ebenso wird der Strand in bekannter Manier zum unheimlichen Ort, an dem Dinge wegkommen und sich verdrängte Erinnerungen offenbaren und der damit sogar zu Bedrohung wird.

Viele Motive und Stränge in „Frau im Dunkeln“ werden den treuen Leser*innnen also sicherlich bekannt vorkommen. Das tut der Genialität dieses Romans allerdings keinen Abbruch. Im Gegenteil. In dieser Wiederkehr der Motive liegt enorm viel Spannung, da man glaubt das Ferrante-Puzzle Stück für Stück zusammensetzten zu können, der Lösung des Rätsels näher zu kommen, die literarische Anziehungskraft erklären zu können.

„Frau im Dunkeln“ offenbart einen ganz eigenen mystischen Sog, beschwört eine dunkle Faszination und ist nicht nur darum ein grandioses Leseerlebnis. Die Lektüre des Romans ist eine erhellende sowie gleichzeitig verwirrende Leseerfahrung, die auch für (feministische) Literaturdebatten unabdingbar ist!

Elena Ferrante: Frau im Dunkeln
Roman, 2019, aus dem Italienischen von Anja Nattefort
Gebunden, 188 Seiten, 22 Euro

Wir danken Suhrkamp für das Leseexemplar!