„Das Meer war zu einer veilchenblauen Masse geworden“: Elena Ferrantes „Lästige Liebe“

Die Protagonistin in Elena Ferrantes neuübersetztem Erstlingswerk, begibt sich auf die Suche nach den Spuren ihrer Mutter. Stattdessen findet sie sich selbst.

Es beginnt wie ein Krimi. Delias Mutter ist tot. Ertrunken im Mittelmeer. Unweit des Urlaubsortes, an welchem Delia einige Sommer mit ihren Schwestern und ihrer Mutter verbrachte. Sie wurde stark geschminkt und nur mit einem für ihre Mutter viel zu noblen BH bekleidet am Strand angespült. Mutter Amalia hatte sich eigentlich auf den Weg von Neapel nach Rom gemacht, um ihre Tochter zu besuchen. Dort ist sie nie angekommen. Stattdessen erhält Delia mysteriöse Anrufe ihrer Mutter, die ihr zwar nicht offenbaren kann, wo sie sich befindet, aber dass da ein Mann sei, der sie fortbringen will.

Der dritte Anruf kam abends um zehn. Meine Mutter erzählte eine verworrene Geschichte von einem Mann, der sie verfolgte, um sie in einen Teppich gerollt wegzuschaffen.

Für die Beerdigung kehrt Delia nach Neapel zurück. Sofort wird sie von dem wabernden Sumpf ihrer Geburtsstadt überwältigt – vom obszönen Dialekt, dem Schmutz, der Gewalt und dem Lärm. Während des Beerdigungszugs beginnt sie außerdem prompt sehr stark zu menstruieren. Monatsblut – der Ursprung der Welt, das Zeichen der Fruchtbarkeit und möglicher Mutterschaft.

Nach und nach offenbart der Roman, in teilweise (alb)traumhaften Sequenzen, das schwierige Verhältnis zur eigenen Mutter sowie das noch viel schwierigere Verhältnis zum gewalttätigen und rassistischen Vater.

Die Quartieri Spagnoli in Neapel. In den engen und chaotischen Gassen des Viertels kann man leicht die Orientierung verlieren.

Während sich Delia auf die Suche nach jenem Mann begibt, den sie für den Mörder ihrer Mutter hält, verstrickt sich die Protagonistin immer mehr im Moloch Neapels und ihrer Kindheitserinnerung. Sie erinnert sich an eine Lüge, die zum Ausgangspunkt der väterlichen Gewalt wird, aber eigentlich ein noch dunkleres Geheimnis birgt.

Als ganz plötzlich ihre Monatsblutung versiegt, ist Delia ganz an den Ursprung des tragischen Todes ihrer Mutter und damit in ihre traumatischen Erinnerungen gelangt.

Klug beschreibt Ferrante eine Geschichte der Kindheit in Neapel, in der sexuelle Gewalt, Armut und rassistische Vorurteile des postkolonialen Italiens allgegenwärtig sind und transportiert diese in die Gegenwart der Protagonistin. Delia berichtet zwar offen über weibliche Körperlichkeit und Begehren, kann der Aura des Missbrauchs, der Machthierarchien und Gewalt aber ebenso nicht entkommen.

Aber während ich kräftig mein Gesicht abrieb, besonders unter den Augen, wurde mir mit unerwarteter Zärtlichkeit bewusst, dass mir Amalia unter der Haut saß wie eine warme Flüssigkeit, die mir irgendwann injiziert worden war.

„Lästige Liebe“ kann durchaus als Unterbau zur neapolitanischen Saga gelesen werden. Mutter Amalia erinnert in ihrem Prekariat und der dialektalen Vulgarität durchaus an Lenùs Mutter der gefeierten Tetralogie. Delia hingegen wirkt wie eine Zwei-in-eins-Figur, die in ihren für die Lesenden unverständlichen Handlungen sehr an die Figur der Lila erinnert. In der Flucht aus Neapel, die Delia unternimmt, liegen aber durchaus Parallelen zur Protagonistin Elena Greco.

In der komplexen Darstellung des Verhältnisses zur Mutter wird außerdem eines der wichtigsten Themen Ferrantes bedient. Auch der Handlungsort ist uns mit Neapel schon aus der Tetralogie bekannt und wird auch in „Lästige Liebe“ zum wirren, mysteriösen und opaken Ort, der Geheimnisse und Gewalt birgt und diese zu jeder Gelegenheit aus seinem dunklen Schlund zu spucken scheint.

Im Chaos der Via Salvatore Rosa feststeckend, fiel mir auf, dass ich keinerlei Sympathie mehr für Amalias Stadt empfand, für die Sprache, in der sie mit mir gesprochen hatte, für die Straßen, durch die ich als junges Mädchen gegangen war, und für die Leute.

Dennoch ist „Lästige Liebe“ ein eigenständiger Roman, der im Vergleich mit den in Deutschland bereits bekannten Werken Ferrantes in keinster Weise schlechter abschneidet. Tatsächlich ist das geheimnisvolle und labyrinthisch anmutende Neapel in diesem Roman so besonders und individuell beschrieben, dass „Lästige Liebe“ zu einer Lektüre wird, die man aufgrund der Spannung zwar schnell beendet, die aber noch sehr lange nachhallt.

 

Elena Ferrante: „Lästige Liebe“
Aus dem Italienischen von Karin Krieger
Suhrkamp Verlag, Berlin 2018
207 Seiten, 22 Euro

Wir danken Suhrkamp für das Rezensionsexemplar!