Zwischen Individualität und weiblicher Kollektiverfahrung – Annie Ernaux: „Erinnerung eines Mädchens“

In „Erinnerung eines Mädchens“ ergründet Annie Ernaux die Folgen einer Nacht, die sich vor über 50 Jahren abspielte.

Es war vor etwa einem Jahr, da drehte das Internet kurz wegen einer Short Story durch. In „Cat Person“ beschrieb Kristen Roupenian eine Situation, die in der gerade auflodernden #MeToo-Debatte genau richtig kam und in der sich viele junge Frauen* wiederzuentdecken glaubten. Es handelt sich um die Geschichte einer jungen Frau, die einen Typen kennenlernt und nach ein paar Dates mit ihm nach Hause geht, aber eigentlich schon nach dem ersten Geknutsche merkt, dass sie nicht mit ihm schlafen will. Aus „Pflichtgefühl“, da sie ja schließlich mit ihm mitgegangen ist und diese Hoffnung geweckt hat, schläft sie doch mit ihm und ekelt sich durch den kompletten Akt hindurch. Roupenian erzählt damit keine „klassische“ Geschichte des Missbrauchs oder der sexualisierten Gewalt. Stattdessen handelt diese Story von weiblicher Sozialisierung und falschem Pflichtbewusstsein.

Annie Ernaux‘ Geschichte ist eine ganz ähnliche. Nur spielt sie früher. Im Jahr 1958. Ernaux erzählt die Geschichte des Mädchens Annie Duchesne, von der sie sich bewusst abkapselt, denn, so schreibt sie, hat dieses Mädchen nichts mehr gemein mit der Annie Ernaux der Gegenwart, ergo, kann es nicht sie sein, sondern muss sich um ein anderes Mädchen handeln, dessen Erinnerung sie niederschreibt.

Was mir spontan einfällt: Alles in ihr ist Begehren und Stolz. Und: Sie kann es kaum erwarten, eine Liebesgeschichte zu erleben.

Wie im Vorgängertext „Die Jahre“ (2017 in der Übersetzung von Sonja Finck bei Suhrkamp erschienen) hangelt sich die Erzählerin an Fotos und Erinnerungsfetzen entlang und lässt die Leser*innen so am Schreibprozess teilhaben.

Annie Duchesne begibt sich als 18-jährige für einen Aufseherinnenjob in ein Feriencamp. Ein echtes Abenteuer für sie, die auf einer katholischen Mädchenschule noch nicht wirklich in Kontakt mit Männern* gekommen ist und die 50er Jahre auch nicht unbedingt für ihre sexuelle Freizügigkeit und Gleichberechtigung bekannt sind.

Umso euphorisierter ist Annie, als sie auf ihre erste Party geht und dort von Chefbetreuer H. zum Tanzen aufgefordert wird. Überstürzt drückt er sie gegen die Wand, küsst sie. Ihr geht das eigentlich zu schnell, dennoch lässt sie ihn gewähren. Auf seinem Zimmer angekommen, wird sie ihn immer noch nicht wollen, glaubt aber in der Pflicht zu sein, schließlich ist sie ihm auf sein Zimmer gefolgt.

Die Autorin Annie Ernaux. Bild: Wikimedia Commons

Ernaux untersucht in „Erinnerung eines Mädchens“ die Folgen jener Nacht, die sie nicht mehr loslassen wird. Einer Nacht, die sie erst als Annie Ernaux, über 50 Jahre später, als Gewalterfahrung begreifen wird. Nach verschiedenen Versuchen dieses Schreibprojekt zu starten, kann sie sich erst jetzt durchringen diese Geschichte niederzuschreiben. Dabei lässt sie die Lesenden diesen Erinnerungsprozess begleiten.  Somit wird der Text zum Prozess und Produkt zugleich, geprägt von Fragmenten, Erinnerungslücken und einer nicht ganz vertrauenswürdigen Erzählerin.

Noch habe ich das Tor zur Kolonie nicht durchschritten. Ich komme nicht voran in dem Bemühen, das Mädchen von 58 zu erfassen, als wollte ich ein möglichst genaues „Profil“ von ihr erstellen, mit immer mehr gesellschaftlichen und psychischen Faktoren, immer mehr Strichen in der Zeichnung, selbst wenn sie dann unkenntlich wird […].

Die individuelle Erfahrung des Mädchens Annie Duchesne wird bereits durch den unbestimmten Artikel im Titel zur kollektiven Erinnerung erklärt. Noch deutlicher wird dies, wenn man den Originaltitel betrachtet: „Mémoire de fille“ könnte man auch als „Mädchenerinnerung“ übersetzen. Ernaux stilisiert ihre Erfahrung der Gewalt, aus welcher Gewalt an sich selbst resultiert, zu einer weiblichen Kollektiverfahrung. Das Private wird politisch.

„Erinnerung eines Mädchens“ ist in der durchaus nüchternen, vom eigenen Erleben ausgehenden Betrachtung fehlender weiblicher (sexueller) Selbstbestimmung, einer Gesellschaft im Wandel sowie der Beziehung eines Mädchens zur Mutter, gewohnt grandios.

Bereits „Die Jahre“ war ein großartiger Text – nicht zuletzt aufgrund der meisterinnenhaften Betrachtung gesellschaftlicher Phänomene. „Erinnerung eines Mädchens“ legt den Fokus allerdings auf weibliche Erfahrungen. Interessant dabei ist, dass Ernaux‘ individuelle Erfahrung als weibliche Kollektiverfahrung funktionieren kann und damit zu einem feministischen Text wird, den unbedingt ALLE lesen sollten.

 

 

Annie Ernaux: Erinnerung eines Mädchens
Aus dem Französischen von Sonja Finck
Berlin 2018, Suhrkamp-Verlag
163 Seiten, 20 Euro

Wir danken Suhrkamp für das Rezensionsexemplar!