Schlafen, wie ein Fabelwesen

Terézia Moras – „Die Liebe unter Aliens“: Über das Perpetuum Mobile unseres Daseins

„Im Winter dagegen sieht er fast nur Dunkelheit. Fährt im Dunkeln hin, am Ende der Fahrt ist es immer noch genauso dunkel wie am Anfang, arbeitet, fährt im Dunkeln wieder zurück. Viele Leben so.“

Es sind tatsächlich viele, die so leben, die Terézia Mora in ihrem Buch „Die Liebe unter Aliens“ in elf verschiedenen Erzählungen beschreibt. Die Verknüpfungen zwischen den Protagonist_innen der Erzählungen sind teils recht banal – die Liebe zu Mirabellen zum Beispiel, das Laufen oder Radfahren. Aber es sind die großen Dinge, die sie wirklich einen: Einsamkeit, Schmerz und seltsame Obsessionen, die aus diesen resultieren. In der Alltäglichkeit, im Tagein-Tagaus ist den Protagonist_innen dies selbst gar nicht bewusst. Und beinahe könnte es der*dem Leser*in entgehen, so beiläufig kommt der Schmerz in diesen Erzählungen daher, so schnörkellos sind diese Alltäglichkeiten berichtet. Kurze Sätze. Zusätzliche Informationen werden in Klammern hinzugefügt. Spürt man die Tristesse dieser Leben doch, lässt sie einen erschaudern.

Terézia Moras Debüt waren ebenfalls Erzählungen. Die Geschichten des Bandes „Seltsame Materie“ von 1999 spielen in einem Dorf an der ungarisch-österreichischen Grenze. Sie erzählen von Identität und Alterität, vom Fremdsein – besonders anderen Menschen fremd zu sein. Für ihren Roman „Das Ungeheuer“ wurde die Autorin 2013 mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnet. Zuletzt veröffentlichte sie 2015 ihre Frankfurter Poetik-Vorlesungen unter dem Titel „Nicht sterben“.

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Die Autorin Terézia Mora, Foto: Peter von Felbert

Auch die Erzählungen in „Die Liebe unter Aliens“ handeln von Fremdsein – nicht aber gegenüber anderen, sondern sich selbst. Mora erzählt hier Geschichten des Alltags, des Alienseins im eigenen Leben, einem Leben, das man sich eigentlich nicht so vorgestellt hatte, oder vielleicht doch? Was haben sich die Protagonist_innen der Erzählungen vom Leben erhofft? Sie wissen es selbst nicht. Auch scheinen sie nicht wirklich zu wissen, dass die Leben, die sie führen, scheinbar nicht die richtigen sind. Stattdessen flüchten sie sich in ihre Kindheit, in die Kindheit anderer, laufen Marathon, arbeiten ununterbrochen oder spazieren zehn Stunden am Tag. Ihr Leben, ein Perpetuum Mobile (so auch der Titel einer Erzählung), denken sie. Ein Leben, das es eigentlich nicht gibt, denn nichts läuft, ohne die Energie, die man immer und immer wieder hineinsteckt – und irgendwann kann sich diese Energie nicht mehr umwandeln. Man bleibt einfach erschöpft stehen.
Da ist die junge Mutter, die sich von einem Auftrag in den nächsten stürzt und ihr Kind, das bei ihren Eltern lebt, nur am Wochenende sieht. Da ist Marathonmann, der läuft und läuft, eigentlich einem Dieb hinterher, aber dann doch nicht mehr, sondern einfach um zu laufen. Oder die junge Wissenschaftlerin, die nach verlorener Liebe von Ort zu Ort reist um zu forschen und irgendwann nicht mehr forscht, sondern zehn Stunden am Tag spaziert.

„Schaute hinaus auf den dunklen Wald, wartete die Zeit ab, dann erst fragte sie: Was ist eigentlich dein Traum? Was würdest du am liebsten tun?
(Gar nichts. Der Sonne beim Auf- und Untergehen zusehen. Länger als für diese wenigen Minuten des Tages möchte ich gar nicht leben. Nicht essen müssen, nichts. Schlafen, wie ein Fabelwesen. Es schläft, es wacht auf, um die Sonne beim Auf- und Untergehen zu sehen, dann schläft es wieder. Immer so, auf ewig.)
Laut sagte er […]: eine Sandwicheria.“

Terézia Moras Figuren werden großartig beiläufig beschrieben. Auch ihre Handlungen sind beiläufig. Ihre Biografien werden protokollartig angerissen, ergänzt, wieder aufgeschoben, um zur eigentlichen Geschichte zu kommen. In ihrer Ungerührtheit sind sie schockierend, seltsam, schmerzhaft (und nicht nur, weil man in der beschriebenen Alltäglichkeit, seine eigene erkennt). Ein Buch, das in jeden Herbst gehört – und nicht nur in den Herbst.
Viele leben so.

 

Harte Fakten zum Buch:
Terézia Mora: Die Liebe unter Aliens. Erzählungen; Luchterhand Literaturverlag, München 2016; 272 S., 22,– €, als E-Book 17,99 €

Ich danke Luchterhand für das Rezensionsexemplar.
Titelbild: Cover der Erstausgabe „Die Liebe unter Aliens“, 2016 im Luchterhand Literaturverlag