Eine helle Familie

Linda Boström Knausgård hat mit „Willkommen in Amerika“ einen wunderbaren Roman über das Schweigen und das Irrenhaus des Erwachsenseins geschrieben.

Die Figur der weiblichen, stimmlosen Frau ist spätestens seit Shakespeares Ophelia fest verankert in den Werken männlicher Autoren. Die feministische Literaturwissenschaft begibt sich seit den 1970ern auf die Suche nach diesen weggeschriebenen Stimmen und auch Autorinnen streben danach ihren Protagonistinnen Gehör zu verschaffen.
Linda Boström Knausgård scheint einen ganz anderen Weg einzuschlagen. Die elfjährige Ellen, Protagonistin ihres Romans „Willkommen in Amerika“, beschließt zu schweigen. Von einem Tag auf den anderen. Eigentlich artikuliert sie sich überhaupt nicht mehr. Kein Nicken, keine Handgeste, kein Schluchzen.

Ellen lebt mit ihrer Mutter, einer Schauspielerin, und ihrem Bruder, der sich die meiste Zeit in seinem Zimmer einschließt und Musik macht, zusammen. Außerdem ist da noch ihr Vater, der ihr in regelmäßigen Abständen manchmal als liebevolle Figur, manchmal als gespenstisches und angsteinflößendes Flimmern der Vergangenheit erscheint. Denn Ellens Vater, ein aggressiver Trinker, ist tot. In Ellens Vorstellung ist der Tod des Vaters ihre Leistung, denn sie hat es sich nächtelang in Gebeten gewünscht.

Papas Tod war ein Triumph für mich und Gott. Es war unsere erste Zusammenarbeit.

Ellens Mutter, wiederum, versucht als eine Art Königin des Lichts und der Familie alles mit Helligkeit zu erfüllen. Ellens Vater, der immer depressiver wird, passt mit seiner Finsternis nicht zu dieser hellen Familie. Als er weg ist, atmen erst einmal alle auf. Aber vielleicht hat die Helligkeit der Mutter den Vater erst in die Dunkelheit gestoßen? Auch Ellens Bruder scheint nur kurz von diesem Licht erfüllt zu werden. Und Ellen, versucht ihr zu entkommen, dieser Helligkeit, mit der sie nichts anfangen kann und schweigt.

Sicher war hingegen, dass er nichts zustande brachte. Dass seine Dunkelheit ihn bat zu sterben. Er war nichts wert. Er war ein verbrauchter Mensch. Mama hatte ihn verschlungen und wieder ausgespuckt.

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Linda Boström Knausgård, 2016 (Bild: Wikimedia Commons)

Mit kurzen und schnörkellosen Sätzen erzählt die 44-jährige Autorin Boström Knausgård die Geschichte einer wachsenden Depression, den Verwirrungen des Erwachsenseins und den Versuchen diesen zu entkommen. Die Sätze wirken kindlich, aber nicht naiv. Die Zeitebenen sind verschoben, sodass man nach einigen Seiten nicht mehr weiß, wie lang die erzählte Zeit dauert und wie alt Ellen am Ende dieser Erzählung eigentlich ist. Ist sie noch ein Kind?

Die Tiefsinnigkeit dieser infantil konstruierten Sätze lässt an Hertha Müllers „Herztier“ denken, oder etwa an die Erzählungen einer Terézia Mora. Boström Knausgård liefert ein Gedankenexperiment, eine Art Stream of Consciousness, der aber wenig abgefahren daherkommt, sondern eher sanft und tieftraurig.
„Willkommen in Amerika“ ist bereits der vierte Roman der schwedischen Autorin. Er ist aber der erste, der ins Deutsche übersetzt wurde und nun endlich auch internationalen Ruhm erfährt. Linda Boström Knausgårds Stimme scheint leider auch lange überhört worden zu sein.
Im Trubel um ihren Exmann Karl Ove Knausgård ist ihre Stimme untergegangen. Dieser widmete Linda zwar einen großen Part in seinem sechsbändigen, autobiografischen Epos „Min Kamp“, verarbeitete aber auch gleichzeitig intime Details ihrer Krankheit und des gemeinsamen Lebens, ohne dass Linda Boström Knausgård selbst zu einem Wort anheben konnte. Nun hören wir
sie endlich, die Stimme dieser großartigen Autorin, und diese Stimme ist laut, obwohl ihre Protagonistin schweigt.


Linda Boström Knausgård: Willkommen in Amerika. Aus dem Schwedischen von Verena Reichel. Schöffling&Co.; 144 Seiten; 18 Euro.

Wir danken Schöffling & Co. für das Rezensionsexemplar!