Die Geister, die ich rief

„Ich komme“ – der Roman der französischen Autorin Emmanuelle Baymack-Tam ist ein gnadenloses Drei-Generationen-Portrait und eine schonungslose Entblößung der französischen haute société. 

Schon Linda Boström Knausgårds Roman „Willkommen in Amerika“ stellte einen recht schonungslosen Blick auf moderne Familienstrukturen und den ganz normalen Erwachsenenwahnsinn in kurzer Romanform dar. Ellen, die elfjährige Protagonistin und Erzählerin dieser Geschichte, versuchte sich diesem Wahnwitz zu entziehen und beschloss zu schweigen.

Auch Bayamack-Tams Roman bietet einen gnadenlosen Blick auf familiäre Grausamkeiten. Allerdings lässt Bayamack-Tam drei Frauen aus drei Generationen sprechen. Und diese hören gar nicht mehr damit auf.

Wer schon einmal in Marseille war, d_ weiß – Marseille ist eine arme Stadt. Mit kriminalitätsbehaftetem Hafen, Elendsvierteln, schlechter Integration und einem stetigen Uringeruch in der Nase. Es gibt aber natürlich noch das andere Marseille. Das, der reichen Leute, die in Saus und Braus in ihren Stadtwohnungen am aufgehübschten Teil des Hafens wohnen und ab zu hinaus fahren, in ihre Ferienhäuser in Cassis, oder anderswo am Mittelmeer.

Eine solche Familie ist die, die Bayamack-Tam ihren Leser_innen präsentiert. In drei Teile gegliedert liefern uns Nelly, Gladys und Charonne ihre Sichtweisen.

Nelly, eine alternde Filmschönheit ist mittlerweile über Achtzig. Fernand, ihren ersten Mann, der bedeutend älter war als sie, hat sie bereits vor Jahren zu Grabe getragen. Nun lebt sie mit ihrem zweiten Mann, Charlie, in deren schickem Haus in Marseille, zusammen mit Gladys, ihrer Tochter aus erster Ehe, und ihrer Adoptivenkelin Charonne.

Charonne ist generell ihre einzige verbündete – anfangs eigentlich nur, weil ihr dieses kleine Schwarze_ Mädchen leidgetan hat, das zwar nun durch Adoption in den Schoß dieser schrecklich netten Familie katapultiert wurde, aber eigentlich nicht gewollt ist. Dies erfährt man bereits am Anfang des Romans und wird direkt in den Strudel der Ekelhaftigkeiten gesogen.

Einer der großen Vorteile der Verwahrlosung durch die Eltern äußert sich darin, dass sie die Kinder daran gewöhnt, sich für belanglos zu halten.

Da sitzen drei Erwachsene und ein Kind – kein Kleinkind mehr, es kann durchaus verstehen, was die Erwachsenen da reden – im stickigen Adoptionsbüro. Zwei der Erwachsenen, Gladys und Régis, sind die Jungeltern (übrigens sind die beiden auch so etwas wie Geschwister, aber das ist eine andere Geschichte), die nun doch keine Eltern mehr sein wollen. Denn Charonne ist wahnsinnig nachgedunkelt und aus dem Leim gegangen und den Namen „Alice“, den Gladys viel angenehmer findet als Charonne, will dieses Kind auch nicht annehmen. Darum haben Gladys und Régis im Internet recherchiert, wie man am Besten und Schnellsten entadoptieren könne. Sie nässe ins Bett, sei eine wahre Plage und außerdem Pyromanin. Dass das nicht stimmt, sieht auch die dritte Erwachsene im Büro – Charonne bleibt also.

Einem ständigen Rassismus und Hass ausgesetzt, wird Charonne immer gewaltiger. Denn zu essen scheint ihre einzige Freude zu sein und dieses Essen schiebt ihr Oma Nelly immerzu hin. Charonne und Nelly sind am Ende des Romans die einzigen Konstanten dieser Familie, die ansatzweise Sympathie füreinander empfinden.

Die Liebe existiert, selbst wenn sie schlecht verteilt ist, und allein diese Vorstellung ist schon ein Trost.

Nellys zweiter Mann Charlie, schon immer Rassist, der nun allerdings, demenzbedingt, gar keine Hemmungen mehr hat diese Parolen auch auszuposaunen, wird immer mehr zur vor sich hinvegetierenden Pflanze. Und Tochter Gladys sieht vor Hass gar nicht mehr klar. Vor Hass auf ihre Mutter und die Teufelin Charonne, in der sie den Ursprung des Bösen vermutet. Da ist nur ihr Mann Régis, mit dem sie immer auf einer Wellenlänge zu sein scheint – zumindest passt sie sich dieser Wellenlänge an.

Da sie niemals so schön wurde wie ihre Mutter, musste ein anderes Lebensmodell her. Gut, dass der neue Mann ihrer Mutter seinen Sohn Régis mit in die Ehe brachte, den Gladys heiraten wird. Gladys und Régis verbringen jedes Jahr Monate auf Selbstfindungstripps in Bhutan, wo sie irgendwann einmal leben wollen um sich allen materiellen Gütern zu entsagen und in die für Gladys hochgepriesenen Arme der Bettelarmut zu eilen.

Blöd nur, dass Gladys nun vermutet, Charonne würde sie bestehlen und nun akribisch jedes Detail des Hauses protokolliert, denn dass dieses Kind des Übels auch nur einen Cent bekomme, das will Gladys dann wiederrum doch nicht.

Wäre das Leben besser eingerichtet, wir hätten Charonne niemals adoptiert. Sie hat die unvorhergesehene und ungerechte Schwäche meiner Organe genutzt, um sich in unser Leben einzumischen.

In ihrer Einsamkeit beginnen alle drei Frauen, zu verschiedenen Zeitpunkten in deren Leben, Geister im selten benutzten Büro des Hauses zu sehen. Sie besuchen diese regelmäßig, lesen ihnen vor, schauen ihnen beim Drogenkonsum zu oder staunen über deren Tanzvorführungen. Irgendwann müssen aber auch diese Geister  verpuffen und lassen die drei Frauen in ihrer Einsamkeit zurück.

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Autorin Bayamack-Tam, (c) Hélène Bamberger

Bayamack-Tam entwirft in ihrem vierten auf Deutsch erschienen Roman einen unbarmherzigen Blick auf die kalte französische Gesellschaft, auf Oberflächlichkeit und den gegenwärtigen Materialismus. Unterschwelliger Rassismus tritt in „Ich komme“ in jeder möglichen Form auf – als Selbstfindungstripp einer verwöhnten Oberschicht nach Südasien, oder als Überzeugung, man sei nicht rassistisch, da man schließlich eine philippinische Familie zum Putzen und Gärtnern angestellt habe. Aber auch ganz an der Oberfläche, in rassistischem, hasserfülltem Vokabular.

„Ich komme“ ist erschütternd und ein markerfüllender Schrei – schwingt aber in keinster Weise mit der Moralkeule.

Bemerkenswert ist Bayamack-Tams Können, den drei Protagonistinnen in deren jeweiligen Kapitel eine ganz eigene Stimmlichkeit und Intonation zu verleihen. Ein großartig, wie ebenso merkwürdiger Roman. Ein Muss, ein Muss, ein Muss.

 

Zum Buch:

Em­ma­nu­el­le Ba­yamack-Tam: „Ich kom­me“. Aus dem Fran­zö­si­schen von Chris­ti­an Ru­zics­ka. Se­ces­si­on; 398 Sei­ten; 25 Euro.

Wir danken Secession für das Rezensionsexemplar.