Die Queen of Boredom – sorry, der Bowery

Saint Mazie von Jami Attenberg ist eine in höchsten Tönen gelobte Leseenttäuschung.

„Nur eine Durchschnittsfrau, die etwas ziemlich Ungewöhnliches tut“ heißt es etwa auf Seite 350 – und daraus kann man einen fast 400 Seiten dicken Roman machen? Scheinbar nicht.

Worum geht es? Jami Attenbergs Roman „Saint Mazie“ verbindet über 3 Jahrzehnte hinwegreichende fiktive Tagebucheinträge mit fiktiven Interviews der Jetztzeit und Schnipseln einer unveröffentlichten fiktionalen Autobiographie der Hauptprotagonistin. Mazie Gordon-Phillips ist eine junge New Yorkerin, die sich vor allem auf den Straßen des East Village herumtreibt – zuerst um zu feiern, später um zu helfen. In ihrem Tagebuch hält sie ihr Leben ab 1907 (ihrem 10. Geburtstag) bis zum Versiegen der Einträge am 15. August 1939 fest. In den Einträgen finden sich Geschichten ihres Alkoholismus, ihrer Einsamkeit, ihrer Affären. Geschichten von Wahnsinn, von Armut und Reichtum. Hintergrund bildet vor allem das New Yorker East Village. Ein Viertel der Migrant_innen und Künstler_innen und später der Obdachlosen. Dazwischen steht die Protagonistin Mazie – oder besser: sitzt. Denn die meiste Zeit sitzt sie an der Kinokasse des Kinopalasts Venice, dessen Besitzer, Louis, der Mann ihrer Schwester Rosie ist.
Rosie und Louis holen die junge Mazie und die dritte „Philipps-Schwester“, Jeanie, nach einem Familiendrama von Boston nach New York. Rosie, die älteste der Schwestern, wird im Laufe der Geschichte an ihrem Unvermögen Kinder zu bekommen wahnsinnig. Jeanie beschließt irgendwann aus der Enge dieser Wohnung und der Überwachung Rosies zu entfliehen und kehrt erst nach vielen Jahren zurück um erneut wegzulaufen und nach noch längerer Zeit ein zweites Mal wiederzukehren. Nur Mazie bleibt recht unverändert an ihrer Kinokasse, hat die ein oder andere unwichtige Liebschaft und die eine wichtige. Diese Liebe bleibt aber unerfüllt.

Mazies Tagebuch, 15. August 1918

Seit Tagen nichts als Trinken und Arbeiten. Kein Brief an die Besitzerin, kein einziger. Das Trinken macht mich krank, glaube ich. Beim Aufwachen ist mir übel. Doch anscheinend halte ich mein einsames Leben anders nicht aus.

Alle kennen Mazie und Mazie kennt alle. Wirkliche Freund_innen gibt es nur wenige. Eine der wenigen ist die blutjunge Nonne Te (Ironie aus), mit der sie beginnt anderen Menschen zu helfen. Nachdem mit der Detonation der amerikanischen Börse am Black Friday viele ursprünglich wohlsituierte (vor allem) Männer auf der Straße landen, kommen die beiden gar nicht mehr aus dem Helfen raus. Hier ein Stück Seife, da ein paar Dollar, Süßigkeiten für die Kinder. Mazie beschließt, nach ihren 13-stündigen Kinoschichten, auf der Straße herumzulaufen und alles, was sie dabei hat an die Obdachlosen zu verteilen oder den Krankenwagen zu rufen, falls nötig.
Jami Attenberg arbeitet sich hier an der Geschichte einer realen Person ab. Mazie Gordon – Queen of the Bowery. Kaum etwas ist über die „Heilige des East Village“ bekannt, obwohl der The New Yorker-Redakteur Joseph Mitchell 1940 den Aufsatz „MAZIE“ publizierte. Neben diesem Text, findet man noch den Nachruf im New Yorker von 1964.

Viele der Figuren, die Attenberg in ihrem Text verarbeitet, haben ebenso reale Vorbilder. Attenberg versucht eine Geschichte um eine geheimnisvolle und faszinierende Frau des Jazz-Age-New Yorks zu erschaffen und Lücken zu füllen. Und so faszinierend die Geschichte der realen Saint Mazie auch ist, Attenberg schafft es nicht diese Faszination im Text aufrecht zu erhalten. Die Tagebucheinträge wirken plump, was nicht an der Übersetzung aus dem Englischen von Barbara Christ zu liegen scheint, sondern eher daran, dass es eben die einer „Durchschnittsfrau“ sind und nicht die von Virginia Woolf. Stattdessen wirkt die Geschichte ausgedehnt, die eingesprengselten Interviews eines zeitgenössischen, stimmlosen Ich mit Personen aus Mazies Umfeld erscheinen als überflüssige Wiederholungen. Da Attenberg die Geschichte in einem New York zwischen zwei Weltkriegen spielen lassen will, ihr aber beim Schreiben scheinbar selbst die Puste ausgegangen ist, gibt es gegen Ende nur noch jährliche Tagebucheinträge an Mazies Geburtstagen und einige kurze dazwischen.

Mazies Tagebuch, 15. August 1925

Eine Postkarte vom Captain. Washington, D.C. Er wollte mir mitteilen, dass er wieder im Osten war. Das Bild vorne zeigt das Washington Monument. Ein riesiger Schwanz.

Überraschenderweise wurde Jami Attenbergs vierter Roman überschwänglich gelobt und angepriesen. Und natürlich, eine Geschichte im New York der 20er und 30er, die Geschichte einer starken Frau (die auch noch auf einer realen Geschichte beruht), eine Geschichte um Sex, Wahnsinn und Einsamkeit – das könnte wahrlich alles großartig sein. Im Falle „Saint Mazie“ wurde die Erwartung an den Roman aber enorm enttäuscht.
Auf der ersten Seite des Romans, ein Tagebucheintrag von 1939 und damit ein Vorgriff, erwidert Mazie auf die Frage eines Verlegers, der an ihrer Geschichte interessiert ist, ob sie nicht ein Buch über sich schreiben wolle: „Wen interessiert schon mein Leben? Den ganzen Tag sitze ich bloß hier an der Kinokasse.“ – ich hätte mir nach diesen Zeilen schon denken sollen „Mich jedenfalls nicht“.

Harte Fakten zum Buch:

Jami Attenberg: Saint Mazie
Aus dem amerikanischen Englisch von Barbara Christ
Schöffling & Co, Frankfurt am Main 2016
384 Seiten, 24,00 EUR

Ich danke Schöffling & Co für das Rezensionsexemplar!

Titelbild: Ausschnitt des Buchcovers der oben genannten Ausgabe